La Ville Invisible.


von Katja Stuke mit Oliver Sieber

In diesem Kapitel der Cartographie Dynamique beschäftigen wir uns mit dem Einfluss und der langfristigen Wirkung von Großereignissen wie den Olympischen Spielen auf die Strukturen von Städten. Uns interessieren die teilweise radikalen Veränderungen, die aus diesen Massenveranstaltungen folgen, sowie die Planung von Infrastruktur und die gesellschaftlichen Auswirkungen. Dabei verstehen wir uns nicht als Aktivisten für eine bestimmte Sache. In unserer fotografisch-künstlerischen Arbeit greifen wir jedoch die uns umgebende (urbane) Landschaft und die Gesellschaft, in der wir leben, auf. Die aktivistische Frage „Wem gehört die Stadt?” verstehen wir als Aufforderung zum genauen Hinsehen. Unser Interesse an urbanen Peripherien sowie die Entscheidung für die Städte, in denen wir arbeiten, stammen aus biografischen Erfahrungen und visuellem Interesse. Seit mehr als 20 Jahren halten wir uns regelmäßig in Paris sowie in Osaka und Tokio auf. In diesem Zeitraum sind grundsätzliche Veränderungen erkennbar. In Vororten oder vermeintlich uninteressanten Orten finden wir die Themen, die uns auch fotografisch interessieren.

Gehen

In der Regel eignen wir uns die Städte, in denen wir leben und arbeiten, durch das Gehen an. Das Zitat von Yoko Tawada „Gehen ist wie Denken ohne Worte” begleitet uns schon sehr lange. Gehen ist für uns ein Prozess des Sehens, Erkennens und Erspürens von Veränderungen über längere Zeiträume hinweg. Dabei stehen bei verschiedenen Projekten unterschiedlichste Fragen im Zentrum: die nach Identität und Geografie bei „Japanese Lesson“; bei „Monde de Demain“ beschäftigen wir uns mit dem Zusammenhang von Peripherie und Zentrum im Hinblick auf Subkultur. Bei „Ville Lumière” beobachten wir die Wirkung von Protesten auf die Stadt jenseits der Protestrouten. Der „Walk the Walk“ durch Chongqing folgt einer Route in Düsseldorf. Bei unseren „Walks” sind wir nicht ziellos, dennoch folgen wir der Haltung der Situationisten in ihren Dérives: Das stundenlange Gehen durch die städtische Umgebung ist die Grundlage für Verständnis und Inspiration.

SOZIALE Landschaft oder NEW NEW TOPOGRAPHICS

2017 entstand die Arbeit Japanese Lesson. Dabei interessierten uns vor allem die sozialen und gesellschaftlichen Fragen, die uns beim Erkunden verschiedener Distrikte in Tokio und Osaka aufgefallen waren. Dabei konzentrierten wir uns vor allem auf die Grenzen verschiedener Stadtteile, die teilweise auch soziale Grenzen bedeuteten. Später wurden wir auf Masao Adachis „Landscape Theory“ und seinen Blick auf die (städtische) Landschaft aufmerksam gemacht. Er stellt die Frage, wie die Stadt, konkret auch die Architektur und das Bild von Stadt, auf die Gesellschaft, aber auch auf jeden einzelnen von uns einwirkt. Wer trifft Entscheidungen über Eingriffe und Veränderungen? Wer entscheidet, wie Städte aussehen und funktionieren? Und wie macht sich das in uns bemerkbar? Diese Fragen spielen bei vielen unserer Serien eine zentrale Rolle. Neben den (oft zentralperspektivischen) Straßenfotografien der Walks können unsere Serien auch Porträts oder Scans von Objekten beinhalten. Unsere Recherchen zu den einzelnen Themen münden zudem in Websites, Gesten, Handapparaten oder Glossaren und werden so Teil des künstlerischen Werks.

EXPO, OLYMPIsCHE SPIELE UND Baustellen

Unser Interesse an den verschiedenen Großereignissen wurde konkret, als im Jahr 2018 feststand, dass im Jahr 2025 erneut eine Weltausstellung, die EXPO, in Osaka stattfinden soll. Und zwar genau in Konohana, dem Stadtteil Osakas, in dem wir regelmäßig leben und arbeiten. Schon einmal fand in Osaka eine Weltausstellung statt. Die Osaka EXPO ’70 gilt auch heute noch als wegweisend. Während einer Veranstaltung im EXPO-Park in Osaka hatten wir 2006 den japanischen Künstler Yanobe Kenji kennengelernt, dessen Fragen nach den „Ruinen der Zukunft” uns nachhaltig beschäftigt haben.
Daraufhin sind weitere Stadtteile in unser Blickfeld gerückt. Shin Sekai (Neue Welt) wurde 1903 zunächst für eine nationale Industrieausstellung geplant und 1912 als Luna Freizeitpark weiterentwickelt. Während der Vorbereitungen für die EXPO 70 wurden die Arbeiter der Baustellen in eigens zu diesem Zweck errichteten Unterkünften untergebracht, die heute noch als günstige Apartments vermietet werden. 2006 war Shin Sekai einer der ärmsten und „dunkelsten” Stadtteile Osakas. Mittlerweile ist er zu einem ziemlich überlaufenen touristischen Hotspot gentrifiziert.
Zur gleichen Zeit wie die EXPO 70 wurde Senri New Town gebaut. Eine Schlafstadt, bestehend aus Apartmenthäusern unterschiedlicher Größe, Danchis (sozialen Wohneinheiten) und kleineren Bungalows. Außerdem gibt es eine Monorail-Bahn und ein Atomkraftwerk, das die EXPO 70 mit Strom versorgte.
Dieses Interesse an Planstädten führte uns auch nach Songdo in Südkorea, einer zwischen 2003 und ca. 2012 realisierten Smart City. Dort wurden die fehlenden Leerräume, Zwischenräume und Räume zur unplanbaren Nutzung direkt spürbar. Eine Beobachtung, die wir auch in einzelnen Pariser Vororten machten. Alte Industriegebäude, Brachen und verlassene Räume, die angeeignet und transformiert werden können, sind in der Planung neuer Städte nicht vorgesehen. Dadurch fehlt es an Raum für Potenzial, das langsam und organisch entsteht und sich über einen längeren Zeitraum entwickelt.
Bereits 2017 begannen die Bauarbeiten an den Spielstätten der Olympischen Spiele in Tokio. Im selben Jahr wurde Paris als Austragungsort der Olympischen Spiele 2024 bekannt gegeben. In Paris wurden zudem der Bau ganz neuer Metrolinien und der Umbau der Infrastruktur, vor allem außerhalb des Boulevard Périphérique, vorangetrieben. Die Pariser Metro war lange ein politisches Mittel, um zu steuern, wer das Stadtzentrum schnell erreicht. Nun gibt es den Grand Paris Express, der es den Menschen in den Vororten ermöglicht, schnell in die Stadt, aber auch direkt in andere Vororte zu gelangen. Der letzte Bauabschnitt soll 2030 fertiggestellt sein. Die daraus folgenden neuen städtischen Veränderungen sind sicher weiter beobachtenswert.
In Tokio interessierte uns besonders der Miyashita-Park: ein ehemaliger öffentlicher Park mit einem Skatepark, in dem auch viele Obdachlose in ihren ordentlich aus blauer Folie und Pappkarton gebauten Behausungen lebten. Mittlerweile befindet sich der Skatepark auf dem Dach einer Shopping-Mall. Skater, die die kleinen Rampen nutzen wollen, müssen zudem eine Eintrittskarte kaufen. Mit Yumeshima in Osaka und Ariake und Harumi in Tokio wurden bisher unbebaute, künstlich aufgeschüttete Inseln, die auf Müll angelegt wurden, für die EXPO, einige olympische Wettbewerbe und das neu erbaute Olympische Dorf genutzt.
Während der Olympischen Spiele 2024 in Paris haben wir einige letzte Bilder fotografiert und die unmittelbare Wirkung sowie die kurzfristigen Einschränkungen des Events erfahren. Auf zwei weitere Themen wurden wir aufmerksam: Sowohl Paris als auch Tokio haben anlässlich der Olympischen Spiele Gesetzesänderungen beschlossen, die eine großflächigere Überwachung und die Verknüpfung von Gesichtserkennung und Bewegungsprofilen erlauben.

Einen großen Raum nehmen Baustellenkonstruktionen in der Arbeit La Ville Invisible ein. Gebäude mit unterschiedlichsten Funktionen entstehen sowohl auf bisher unbebauten Arealen und Brachen als auch auf ehemaligen Industriegeländen. Aber auch inmitten schon existierender Strukturen werden neue Komplexe gebaut, die sich in die bestehende Umgebung integrieren müssen. Baustellen interessieren uns, denn an Baustellen werden Transformationen sichtbar. In ihrer Unvollständigkeit scheint eine Utopie noch möglich und das Resultat noch offen – trotz der perfekten dreidimensionalen Visualisierungen der Bauvorhaben an den Bauzäunen. Die Baustelle ist somit eine Metapher der Möglichkeiten. Die fertiggestellten Bauvorhaben interessieren uns hingegen nicht. Allerdings brachte uns eine Ausstellung im Jahr 2023 nach Seoul. Auch dort fanden 1988 Olympische Spiele statt. Für den Bau des Dorfes mussten die Bewohner ihre Häuser unter der damaligen Militärregierung verlassen und wurden umgesiedelt. Viele von ihnen fanden sich im Guryong Village wieder, einem Hüttendorf, in dem zeitweise bis zu 1.000 Menschen lebten. Heute kämpfen die rund 600 Menschen, die dort leben, gegen eine erneute Vertreibung. Guryong Village befindet sich im begehrten Stadtbezirk Gangnam und ist längst ins Visier städtischer Entwicklungspläne gerückt. Baustellen für neue Großprojekte befinden sich bereits buchstäblich auf der anderen Straßenseite.
Für ein letztes Kapitel der La Ville Invisible haben wir aus unserem Archiv Fotografien aus Sarajevo ausgewählt. 2014 hatten wir für das Projekt You and Me dort fotografiert; unter anderem waren auch Bilder an verschiedenen ehemaligen Spielstätten der Olympischen Winterspiele von 1984 entstanden. Während des Bosnienkriegs in den 1990er Jahren wurden sie zum Kriegsschauplatz.

DIE FOTOGRAFISCHEN AGGREGATZUSTÄNDE

So verstehen sie nicht nur die Konzeption und Realisation von Fotografien, sondern ebenso das Editieren und Distribuieren von Bildern als wichtigen Teil verschiedenster Anwendungsbereiche von Fotografie. Wie werden welche Motive in welchem Zusammenhang verstanden und interpretiert? Wie beeinflusst das gestalterische Umfeld ein fotografisches Motiv, was passiert mit Bildern in unterschiedlichen Abfolgen, was definiert die Qualität und Bedeutung von Bildern? Was bedeutet der »Originalitäts-Begriff« im Zusammenhang der zahlreichen Aggregatzustände von Fotografie (als Abzug, gerahmtes Bild, Buchabbildung, Werbe- und Magazinbild, Diapositiv, Schwarz-Weiß-Kopie oder digitaler Datei). Dr. Sabine Maria Schmidt)

La Ville Invisible enthält 148 Fotografien aus verschiedenen europäischen und asiatischen Metropolen. Wir haben sie im Verlauf von sieben Jahren immer wieder an bestimmten Orten aufgenommen. Dabei interessieren wir uns sowohl für Ähnlichkeiten als auch für Unterschiede in den verschiedenen Städten und für die Veränderung der jeweiligen Orte im Zeitverlauf. Unser Verständnis von Fotografie ähnelt hier womöglich dem der Kampfkunst: Wir reagieren mit der Kamera auf das Vorhandene, auf das, was auf uns einwirkt. Die Stadt blickt auf uns und mit der Fotografie blicken wir zurück.

Unsere gemeinsame Arbeit begann im Jahr 1999 mit Foto-Zines. Die ersten Tintenstrahldrucker und geeignetes Papier erlaubten uns, Magazine/Zines in Kleinstauflagen zu konzipieren und zu produzieren. Dabei verstehen wir uns einerseits in der Tradition der Do-it-yourself-Kultur von Punk- und Hip-Hop-Zines und andererseits in der der verschiedenen Praxisformen von Künstlerbüchern oder auch Lucy Lippards Idee des „Ausstellens in Publikationen”.
In der Regel entsteht eine Arbeit zunächst in Buchform. Während der Arbeit am Buch werden bestimmte Aspekte des Werks klarer, es werden Entscheidungen getroffen, die Fotografien werden strukturiert und geordnet.

Für La Ville Invisible nutzen wir unseren Schwarz-Weiß-Kopierer quasi als Fotolabor und künstlerisches Werkzeug zur Entwicklung unserer Fotografien: Die Bilder erhalten durch den Einsatz des Kopierers ihre spezielle Rasterung. Unter Schwarzes Licht fassen wir diejenigen gemeinsamen Projekte zusammen, die sich mit der Form der Fotografischen Bilder beschäftigen. Bei Fax from the Library geht es um die Reproduktion fotografischer Bilder und das Verhältnis von Fotografie und Fotografie-Original. Dies wird auch in der Erscheinung unserer Fotografien sichtbar. Der Prozess der Vervielfältigung spielt dabei außerdem eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung für jedes einzelne Motiv. Neben der inhaltlichen Ebene wird in den Bildern auch immer eine Haltung zum Fotografischen und zum Medium sowie dessen Rezeption sichtbar.

Form follows Content 


Die Arbeit wurde unter dem Titel Ruinen der Zukunft in der Fondation de l’Allemangne/Cité Universitaire in Paris ausgestellt, noch bevor das bereits konzipierte Buch fertiggestellt war. Wir haben eine große Auswahl von Motiven der Arbeit raumbezogen in den großen Fensterfronten des Foyers installiert. Durch das durchscheinende, zeitungsähnliche Papier konnten die Fotografien wie in einem Leuchtkasten betrachtet werden. Unsere fotografischen Arbeiten entstehen über längere Zeiträume hinweg, oft in Serien, die wir über einige Jahre entwickeln. Die Entscheidungen über die Konzeption von Ausstellungen und Installationen werden dagegen konzentriert und zügig realisiert. Fotografische Bilder sind für uns nicht fixiert, sondern lassen sich, dem Thema gerecht werdend, immer wieder neu denken und kombinieren: in anderen Formaten, in anderen Gegenüberstellungen, in veränderten räumlichen Inszenierungen.
Während der Laufzeit der Ausstellung in Paris kamen noch einige letzte Motive hinzu. Das Buch La Ville Invisible erschien dann einige Wochen später. Einzelne Motive der verschiedenen Kapitel des Buchs existieren zudem als Mappenwerke mit jeweils ca. neun bis zwölf Motiven.