Tokyo, Paris, Gießen

Japan steht im Zentrum der Foto- und Videoarbeiten von Katja Stuke und Oliver Sieber, die die Kunsthalle noch bis Ende August präsentiert. Worauf es ihnen bei ihrer Arbeit ankommt, warum sie gemeinsam unter dem Namen „Böhm/Kobayashi“ arbeiten und welche Rolle für sie das Fotobuch spielt, darüber berichtet das Künstlerpaar im Interview.

Eine Ihrer herausragenden Arbeiten heißt „Japanese Lesson“. Darin beschäftigen Sie sich mit Subkulturen, Aktivismus und Protest oder der politischen Landschaft der Großstädte Tokyo und Osaka. Warum sind Sie so sehr von Japan fasziniert?

Stuke: Es gibt mehrere Gründe. Wir hatten 2006 ein Stipendium, waren drei Monate in Japan. Entstanden ist das aus einem Austausch zwischen Düsseldorf und Osaka. In Düsseldorf gibt es eine große japanische Community. Wir haben viele japanische Freunde. Als wir zurückgekommen waren, war Japan für uns also nicht plötzlich weit weg. Es gab Themen, die uns weiter beschäftigt haben und wir sind wieder hingereist.

Begonnen hat dann alles mit einer Sammlung von Bildern, die Sie mit eigenen kombiniert haben?

Sieber:Wenn man sich mit einem neuen Land beschäftigt, sammelt und recherchiert man. Wir nennen das Mashup. Alles was uns passiert, wird in eine Art Container geworfen. Dieser ist über die letzten zwölf Jahre stetig gewachsen und hat sich in verschiedene Richtungen geschärft. Je nach dem, welche Erfahrungen wir gemacht haben, wurden andere, spezifischere Themen mit hineingetan. Viel ging es um Popkultur oder Subkultur in Japan. Nach dem Erdbeben von 2011 hat sich das noch mal ganz stark in die Richtung von Aktivismus erweitert. Über sechs Minuten Bilderflut.

Stuke: Wenn man in die Ausstellung in der Kunsthalle hereinkommt, wird das das erste sein, was man sieht. Besucher werden mit den ganzen Bildern und Einflüssen, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben, konfrontiert. Es ist wichtig, dass man das im Hinterkopf hat, wenn man die anderen Arbeiten im Raum sieht.

Sieber: Es geht auch immer wieder um das Verhältnis von Ich und Gruppe, Individualität und Gesellschaft. Wir verstehen Japan als eine Art Matrix, in der wir frei assoziieren und denken können. Es geht uns nicht um eine Beschreibung Japans, sondern darum, was man lernen kann, etwa zur Buchkultur.

Hinter ihren Foto- und Videoarbeiten steht ein großer theoretischer Überbau. Wie wollen sie das den Betrachtern vermitteln.

Stuke: Wir hoffen natürlich, dass die Arbeiten das machen. Wir schauen schon bei der Auswahl der Titel einer Ausstellung, dass das Thema klar wird und unter welchem Aspekt man die Arbeit betrachtet. In Japan hat uns die Fotobuchkultur beeindruckt, dass japanische Fotokünstler nicht so sehr über Ausstellungen nachdenken, sondern über das Büchermachen. Das Sequenzieren, Editieren und in Zusammenhang bringen von Fotos spielt eine große Rolle. Das wirkt in der Ausstellung wie eine eigene Sprache. Der Ausstellungstitel „Sequence as a dialogue“ hat damit zu tun, wie wir Fotografie verstehen. Aber es geht auch darum, wie wir Zusammenarbeiten über Kommunikation, die Auseinandersetzung über die Bilder, verstehen.

Wie kommen Sie mit den Menschen, die Sie fotografieren, in Kontakt? Sie haben da offenbar zwei unterschiedliche Ansätze: einmal aus dem Off heraus Menschen in einer Menge zu fotografieren, dann wieder die intime Situation des Porträts.

Stuke: Wir unterscheiden uns bei unseren eigenen Arbeiten ziemlich. Ich bin mit der Videokamera auf der Straße unterwegs und habe niemals direkten Kontakt mit den Leuten, höchstens hin und wieder einmal kurzen Blickkontakt. Bei Oliver ist das ganz anders.

Sieber: Man kann sich auch auf der Mimikebene bewegen. Fragen, was Mimik bedeutet. Für mich war es immer schon komisch, dass Leute auf Bildern so oft lachen. Es gibt Regeln, wie man sich zu verhalten hat, wenn man fotografiert wird. Ich habe die Menschen immer direkt angesprochen. Mir ist es wichtig, dass die Leute nicht ins Studio kommen, sondern gar nicht wissen, dass sie an diesem Tag fotografiert werden.

Ist es nicht gerade in Japan schwierig, Menschen zu fotografieren. Dort geht es doch darum, dass man sein Gesicht wahrt, Gefühle nicht öffentlich zeigt.

Sieber: Wir waren immer an den Orten, wo dieses Japanbild nicht existiert. Wir sind in die Gegenkultur gegangen. Das war für uns der Anknüpfungspunkt zu dem, womit wir auch anderorts arbeiten. Musik ist ein guter Kontaktpunkt. Da ist man näher dran an den Leuten. Bei einem Konzert wird man irgendwann Teil des Ganzen. Ich hatte immer einen Zettel auf Englisch und Japanisch dabei, auf dem stand, warum ich Fotos mache. Nie hat jemand gesagt, dass er nicht fotografiert werden will.

Stuke: Olivers Porträts sind ohnehin nicht so, dass jemand sein Gesicht verlieren würde. Wir glauben auch nicht, dass man auf Fotos das wahre Ich des Porträtierten erkennt. In Japan ist Fotografieren und Fotografiertwerden ohnehin meist unproblematisch.

Was hat sich durch Fukushima in ihrer Arbeit geändert?

Sieber: Wenn man sich mit einem Land beschäftigt, hat man es immer mit Stereotypen zu tun. In Bezug auf Japan haben wir immer gehört, dort würde man nicht demonstrieren. Das ist aber gar nicht so. Wir haben Kontakt aufgenommen, zu jemandem, der einen Aktivist-Shop in Tokio hat und dort Anti-Atomkraft-Demos organisiert. Dieser Kontakt war sehr fruchtbar. Er hat uns mit Umweltaktivisten, Anti-Rechts-Akteuren oder Gruppen queerer Politik in Verbindung gebracht.

Stuke:Wenn man einmal Leute kennt, wird schnell Kontakt zu anderen hergestellt. Das hat auch etwas mit der Sprache zu tun. Die Japaner sprechen kein Deutsch, wir kein Japanisch. Wir verständigen uns auf mittelgutem Englisch. Und da spricht man auch ganz klar über Sachen, die sonst im Japanischen nicht offen ausgesprochen werden.

Kann man anhand von Fotos wirklich ein Land „begreifen“?

Sieber: Anhand von Bildern kann man über Themen nachdenken.

Stuke: Wir haben in der Ausstellung auch nicht nur Porträts. Landschaftsaufnahmen oder die Sachen rund ums Buchmachen sind später entstanden. Wir können nicht das Land „begreifen“, in dem Sinne, dass wir es erklären können, aber wir können unsere Perspektive auf das Land nachvollziehen. Wir stellen Dinge, die wir in Japan gesehen haben, mit Fotos aus Paris gegenüber. Im Sommer wollen wir im Ruhrgebiet Landschaftsveränderungen dokumentieren.

Sieber: Da geht es auch wieder um Freiheit. Es geht um die Frage, wie Landschaft oder Raum die Identität bestimmt. Wo wir geboren sind, bestimmt oft aufgrund von fiktiven Systemen unser Leben. Und das gibt es zum Beispiel auch in Paris.

In dem Zusammenhang fällt in ihrer Arbeit der Begriff „Walking Meditation“. Was verstehen Sie darunter?

Stuke: Wir haben uns bestimmte Stadtteile und Orte vorgenommen, entweder weil es dort hohe Stigmatisierung gibt oder weil sie im Zuge der Olympischen Spiele 2020 in Japan verändert werden. Dort sind wird entlang ihrer Grenzen gelaufen und haben in einem bestimmten Rhythmus fotografiert.

Fangen alle ihre Projekte damit an, dass Sie ein Fotobuch machen?

Sieber: Oft ist es so, dass wir mit Zines, also mit kleinen Seitenzahlen, arbeiten. Das hilft, Fotos in eine Struktur zu bringen und den Fokus zu bestimmen.

Stuke: In der Kunsthalle werden wir auf einem Podest alle Bücher als eine Installation zeigen. Ein Teil davon wird im Eingangsbereich auch zum Blättern bereitliegen. Das erst in Buch-Blätter-Form-Bringen ist nicht zwangsläufig, aber geschieht öfter.

Sieber: Wir denken auch in dieser Ausstellung über Originalfotografie als Reproduktionsmedium nach. Für Fotografie gab und gibt es in Japan kaum Ausstellungsmöglichkeiten, weil sich alles in diesen Büchern abspielt. Wir haben schnell verstanden, dass das Buch ein gutes Medium ist.

Stuke:Das Verstehen muss nicht auf einmal passieren. Es braucht auch schon mal einen Ablauf von Bildern zum Verstehen. In der Ausstellung sollte man das ganze Tableau oder mehrere Tableaus als Einheit im Blick haben, und nicht nur das einzelne Bild.

Sieber: Es macht etwas mit einem Bild, wenn ich ihm ein anderes gegenüberstelle. Und genau das hat uns seit Beginn unserer gemeinsamen Arbeit 1999 interessiert: Was passiert, wenn wir unser beider Arbeiten gegenüberstellen und mit Text und Titel versehen?. Daraus hat sich das „Böhm-Kobayashi“-Projekt (eine Fusion aus den Fanzines „Böhm“ und „Kobayashi“, Anmerkung der Redaktion), entwickelt. An solchen Druckerzeugnissen ist es uns wichtig, dass man Sachen in eine unverrückbare Reihenfolge bringt und in einem Kontext einbindet.

In Ruhe ein Buch zu durchblättern, ist auch etwas anderes, als wenn Bilder quasi an mir vorbeirauschen.

Stuke: Wir haben jetzt noch ein Video in der Schau. Das heißt „Fax from the library“. Da spielt unsere umfangreiche Fotobuchsammlung eine Rolle. Für diese Arbeit haben wir uns des Themas Kopieren oder des hartkontrastigen Schwarz-Weiß-Kopierens angenommen. Wir haben Bilder aus anderen Büchern kopiert und gefaxt. Das hat seinen Sound und seine Zeit. Da entziehen wir dem Betrachter Bilder wieder sehr schnell.

Sieber: Wer sich ruhig davorstellt und mal ausatmet, merkt aber ganz schnell, wie viel er dennoch davon mitbekommt.

Und was hat es mit ihrem Künstlernamen „Böhm/Kobayashi“ auf sich? Es gab zunächst das Fanzine „Böhm“, dann in Japan das Pendant „Herr Kobayashi“.

Stuke:Interessant, dass es immer Herr Kobayashi heißt. Das sagen wir gar nicht, auch wenn es am Anfang „Frau Böhm“ hieß. Es war der Übersetzung geschuldet. Böhm ist ins Japanische umgesetzt nur ein Laut ohne Bedeutung und deshalb haben wir einen japanischen Namen gesucht. Es gab ein Heft „Kobayashi San“ und wir hatten die Idee, beide Namen einfach zu fusionieren.

Sieber: Wir haben dabei nie einen Plan. Manchmal bleibt es ein Heft, mal wird daraus etwas Größeres.

Und wie funktioniert die Arbeit als Duo?

Sieber: Ganz einfach. Auch weil wir zusammen leben. Und da spielen wir uns auch schon mal beim Frühstück die Ideen wie beim Ping-Pong zu.

Stuke:Manchmal ist die Arbeitsteilung aber auch ganz klar. Wir haben den Auftrag für einen Bild-Text-Arbeit bekommen. Da wird Oliver die Fotos machen und ich die Texte schreiben. Manchmal ist es auch wie bei den Meditations Walks. Da haben wir uns vorher Gedanken gemacht und es ist dann egal, wer auslöst. Das Interview führte von Karola Schepp